Netzwerk Recherche
Die Vorgeschichte des Putengeschnetzelten

Der Reporterpool von NDR Info enthüllt regelmäßig Missstände, beispielsweise dubiose Praktiken bei der Aufzucht von Puten. Dafür wurde er mit dem »Leuchtturm« des Netzwerks Recherche belohnt.

von Günter Bartsch

Seit 2006 sind Antibiotika als Wachstumsförderer in der Putenzucht verboten. Entsprechende Medikamente dürfen also nicht einfach ins Futter gemischt werden, um das Wachstum der Tiere zu beschleunigen – sondern nur dann, wenn ein Tier erkrankt ist. So viel zur Theorie.

Dass es in der Praxis anders aussieht, enthüllten Mitglieder des Reporterpools von NDR Info: Arne Meyer und Ilka Steinhausen recherchierten, dass die Züchter mit Hilfe von Veterinären das Abgabe-Verbot umgehen, indem sie ihren Tieren das Medikament verschreiben lassen. Gewünschte Nebenwirkung: Die Tiere wachsen schneller.

»Leuchtturm« für besondere Leistung

Zwischen der Themenidee und dem ersten Bericht vergingen 23 Tage – doch fertig sind die Reporter mit dem Thema auch heute noch nicht. Immer wieder kommen neue Hinweise zur »Putenmafia«. Mal geht es um unerlaubte Schmerzmittel, mal um überflüssige Keulungen beim Vogelgrippe-Ausbruch.

Die Ausdauer und Hartnäckigkeit der Reporter werden belohnt – nicht nur mit Informationen. Netzwerk Recherche hat den Reporterpool im Dezember mit dem »Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen« 2009 ausgezeichnet. Mit dem Preis würdigt die Journalistenvereinigung einmal jährlich außergewöhnliche Rechercheleistungen, die Themen und Konflikte beleuchten, die in der Öffentlichkeit bislang nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen wurden. Der Preis ist mit 3.000 Euro dotiert.

Der Reporterpool wurde im Sommer 2005 eingerichtet und bei NDR Info in Hamburg angesiedelt. Ihm gehören heute sieben festangestellte Redakteure an – und noch mal so viele freie Autoren, die nicht pro Beitrag, sondern pauschal bezahlt werden. Damit haben sie wie ihre festangestellten Kollegen die Möglichkeit, umfassend zu rechechieren, wie Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo in seiner Laudatio auf die Preisträger betonte. Das sei »ungewöhnlich, aber gerecht, notwendig und vernünftig«. Allzu häufig würden noch immer jene Journalisten finanziell belohnt, die bequem Pressemitteilungen umformulierten und dazu, wenn überhaupt, Stimmen von Betroffenen einholten (siehe Kasten).

NDR-Reporterpool

Der Pool hat seit seiner Gründung mehr als 2.000 Beiträge und Reportagen produziert. Zuletzt machten die Berichte über fatale Milliarden-Transaktionen bei der HSH-Nordbank, zum Handel mit Bundeswehrpistolen in Afghanistan und zum Datenklau bei AWD Schlagzeilen. Im Fall von Bluttests für Bewerber bei Daimler ermunterte die Arbeit des Reporterpools gar andere Medien zu eigenen Recherchen: Prompt grub die Taz aus, dass auch der Norddeutsche Rundfunk das Blut von Bewerbern untersucht.

Wie der Pool arbeitet, lässt sich am erwähnten Geflügel-Thema nachvollziehen. Meyer und Steinhausen skizzierten ihre Recherchewege für die Ausbildung der NDR-Volontäre unter dem Titel »Blindrecherche« – denn anfangs war es alles andere als sicher, dass aus der Themenidee auch eine Geschichte werden würde. Beim Reporterpool ist das kein Problem: Die Mitglieder sind vom aktuellen Produktionsdruck weitgehend unabhängig – und haben, wenn nötig, mehrere Wochen Zeit, um ein Thema auszurecherchieren. Wie das abläuft, sei am Puten-Beispiel illustriert.

Schritt I: Themenfindung:

Animiert von einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Januar 2009, der von den extremen Qualen von Puten während der Mast handelt, führen die Reporter eine erste Archiv- und Internetrecherche über Putenhaltung und -mast durch.

Sie fragen Fachkollegen und Veterinäre im Bekanntenkreis nach ihren Erfahrungen. Schließlich steht der Entschluss fest, eine Reportage daraus zu machen – mit bis dahin offenem Ausgang der Recherche. Aufgrund des großen und unübersichtlichen Themenfelds entschließt sich der Pool, zwei Reporter darauf anzusetzen.

Schritt II: Erste Gespräche

Die Reporter vertiefen die Archiv- und Internet-Recherche und suchen Experten in der Geflügelzüchter-Hochburg Südoldenburg, vor allem Tierschützer und Putenmäster. Bei Telefonaten fällt erstmals der Begriff »Putenmafia«: Die Angesprochenen kennen die Missstände und reden darüber, wollen sich aber nicht öffentlich äußern. Das regionale NDR-Studio wird kontaktiert und um eine Einschätzung gebeten: Das Thema wird dort positiv aufgenommen, in der Umsetzung jedoch als schwierig eingestuft.

Schritt III: Eingrenzen des Themas

Nachdem die Missstände von vielen Seiten bestätigt wurden, suchen Meyer und Steinhausen einen engeren Rechercheansatz, der auch für Schlagzeilen taugt. Die Reporter kontaktieren Tierschutz-Organisationen, um an weitere Experten heranzukommen. Sie erfahren von einer »freiwilligen Vereinbarung« mit Mindeststandards zur Putenmast aus dem Jahr 1999 – unterzeichnet von Politik, Geflügelwirtschaft und Tierschützern.

Die Vereinbarung führt zur ersten Arbeitsthese. Die Reporter wollen wissen, was sich seitdem konkret verbessert hat – und erfahren von vielen Gesprächspartnern: Es hat sich nur wenig geändert. Über die niedersächsischen Grünen entstehen Kontakte zu einem Putenmäster und zum Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Der Putenmäster dreht und wendet sich, sagt schließlich ein fest vereinbartes Interview ab; seine Begründung ist unklar, wahrscheinlich fürchtet er Druck aus der Branche und Verlust seiner Existenz.

Die Tierschutzorganisation »Aktion Tier« vermittelt den Kontakt zu einem Tierschützer, der seit Jahren für Mäster arbeitet und dort heimlich filmt. Der Informant liefert unter anderem Belege für den wochenlangen Einsatz von Antibiotika in der Putenmast.

Ein bayerischer Veterinär, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, erklärt sich zu einem anonymen Interview bereit. Auch ein Veterinär aus der Region äußert sich am Telefon mehrfach und unaufgefordert zu den Problemen und liefert erstmals detailliertere Angaben zum Antibiotikaeinsatz in der Putenmast. Zunächst erklärt er, wenn auch vage, Bereitschaft zu einem Treffen – schließlich sagt er aber ab, aus Angst um seine wirtschaftliche Existenz.

Als Rerchercheansatz dient neben der »freiwilligen Vereinbarung« über die Mindeststandards auch das seit 2006 geltende Verbot des Anti-biotika-Einsatzes als Wachstumsbeschleuniger. Das Ergebnis der Gespräche mit den Experten: Trotz Verbot verabreichen die Mäster massenhaft Antibiotika – nun eben tierärztlich verordnet. Zudem berichten Veterinäre, dass das Schnäbelkürzen, das eigentlich nur mit Ausnahmegenehmigung möglich ist, die Regel ist. Selbst Veterinäre des Landesamtes bestätigen diese Praxis und den Einsatz von Antibiotika. Ohne die Maßnahmen wäre die Mast nach Auffassung der Tierärzte unter den gegenwärtigen Bedingungen – der hohen Besatzdichte – auch gar nicht möglich.

Schritt IV: O-Töne sammeln

Für ihren Hörfunk-Beitrag benötigen die Reporter Originaltöne. Sie finden einen Tierschützer, der sich äußert und auch über Detailkenntnisse und Beweisfotos verfügt. Aktive Veterinäre bestätigen die Thesen, sind aber nicht zu Interviews bereit. Ein bayerischer Veterinär sagt nach Bedenkzeit einem Interview zu – allerdings nur anonym – er fürchtet das »gefährliche Terrain mit mafiösen Strukturen«.

Ein Interview mit Paul-Heinz Wesjohann, dem Chef der PHW-Gruppe (Marke »Wiesenhof«), scheint zunächst aussichtslos. Zufällig findet aber am 13. Februar 2009 die Bilanz-Pressekonferenz in Hamburg statt. Nach erfolgreicher Akkreditierung gelingt es, den Juniorchef vor das Mikrofon zu bekommen.

Noch während der Pressekonferenz erhalten die Reporter einen Anruf des Niedersächsischen Geflügelwirtschaftsverbandes – obwohl sie diesen noch gar nicht angefragt hatten. Der Verbandsvorsitzende hat detaillierte Kenntnisse über Interviewtermine und Gesprächspartner der NDR-Reporter – die Branche ist offenbar aufgescheucht.

Ein von ihm in Aussicht gestelltes Interview scheitert schließlich »aus Termingründen«. Auch vermittelt der Verband keinen Putenmäster, anders als zunächst zugesagt.

Das Landesamt für Verbraucherschutz bestätigt in Interviews die weit verbreitete Praxis des schmerzhaften Schnabelkürzens, die mit einer Kieferamputation vergleichbar sei. Zur Antibiotika-Verabreichung äußert sich das Amt zurückhaltender, bestätigt aber, dass der Einsatz bei Einzeltieren nicht möglich sei, sondern bei der ganzen Herde vorgenommen werde. Auch der ehemalige Landeswirtschaftsminister Karl-Heinz Funke, der die freiwillige Vereinbarung initiierte, äußert sich.

Schritt V: Erstellen der Beiträge

Vor der Ausstrahlung werden verschiedene Behauptungen gegengecheckt, parallel recherchieren die Reporter weiter. Mehrmals täglich telefonieren sie mit ihren wichtigsten Informanten. Ein Veterinär spricht von einem Medikamenten-Kartell: Ein kleiner Kreis von Tierarztpraxen versorge die Branche mit Medikamenten. Mittlerweile liegt den Reportern O-Ton-Material in einer Länge von gut zwei Stunden vor. Sie sichten, sortieren, schneiden.

Kurz vor Ausstrahlung beginnt die Abstimmung mit dem NDR-Justitiariat; die Reporter werden in der Beweispflicht stehen, sollten sich Betroffene melden oder Klage einreichen. Juristische Begehrlichkeiten werden nach der Ausstrahlung aber nicht auftauchen.

Parallel zur Berichterstattung soll eine Pressemitteilung herausgegeben werden. Neben den Aussagen der Veterinäre dokumentieren Materialien, dass bis mindestens Sommer 2008 die Antibiotika-Praxis gängig war, das Kürzen der Schnäbel bis heute.

Schließlich werden verschiedene Beiträge von 50 Sekunden bis fünf Minuten Länge produziert, die am 19. Februar 2010 gesendet werden. Daneben gibt es Studiogespräche.

Reaktionen

Die Redaktion erhält noch am selben Tag diverse Reaktionen von Veterinären. Ein ehemaliger Veterinäramtsleiter aus der Region bestätigt die Thesen und Berichte. Er ist zu einem Interview bereit, das die Reporter noch am selben Tag führen und senden.

Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Kollegen des NDR-Fernsehens greifen das Thema auf. Ein Humanmediziner meldet sich und äußert sich zu Antibiotika-Resistenzen beim Menschen, die durch den Fleischkonsum hervorgerufen werden.

Auf weitere im Laufe der Recherche hervorgebrachte Aspekte verzichteten die Reporter vorerst zugunsten der Schwerpunktsetzung. Daher werden Themen wie der Einsatz von Schmerzmitteln erst einige Wochen später in eigenen Berichten behandelt. Von Hörern kommen weitere Rechercheansätze, etwa über die Qualen in der Tierzucht und die überflüssige Keulung von Geflügel nach dem Ausbruch der Vogelgrippe H5N3 – der Vedacht: eine von der Tierseuchenkasse finanzierte Marktstützungsaktion.

Dieses Fallbeispiel zeigt mehrere Merkmale des Reporterpools, die aus Sicht des Vorstands von Netzwerk Recherche preiswürdig und nachahmenswert sind: Die Reporter haben Zeit für aufwendige und langfristige Recherchen und die Pflege von Fachkompetenz. Die Strukturen ermöglichen Teamarbeit und die Verschmelzung der Medien Radio, Fernsehen und Internet – dies soll 2010 durch eine verstärkte Einbindung des Internets noch ausgebaut werden.

Der Pool ist eng vernetzt mit den Landesfunkhäusern und weiteren NDR-Redaktionen. Für diese sind die Reporter des Pools zu echten Experten und verlässlichen Informationslieferanten geworden.

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