Forschung
Den Finger in die Wunde legen

Investigativer Journalismus gedeiht auch unter widrigen Rahmenbedingungen. Dies belegt eine Studie, die das Zustandekommen der mit dem Wächterpreis ausgezeichneten Recherchen untersuchte

von Sebastian Gievert

Keine Zeit, kein Geld und kein Interesse an intensiven Recherchen: das sind Praktikern und Wissenschaftlern zufolge die Hauptgründe dafür, weshalb investigativer Journalismus in Deutschland ein Schattendasein fristet. Mit Ehrfurcht blickt man in Richtung USA, wo recherchierende Reporter als Wachhunde der Demokratie scheinbar am laufenden Band Skandale enthüllen, Korruption aufdecken und anno 1974 nach der Watergate-Affäre sogar einen Präsidenten aus dem Amt drängten.

In Deutschland nehmen sich die Erfolge dagegen bescheiden aus: Investigativer Journalismus gelinge allenfalls großen Nachrichtenmagazinen oder im öf fentlich- rechtlichen Rundfunk, so der Tenor international ver – gleichen der Studien. Insbe son dere Tageszeitungen hätten – anders als in den USA – kaum Potenziale für investigativen Journalismus. Die Auflagen und Gewinnmargen seien zu gering und die lokale Bindung zu groß, heißt es. Empirisch fundierte Antworten auf die Frage nach den Rahmenbedingungen von investigativem Journalismus in der deutschen Tagespresse sind bislang jedoch Mangelware.

Förderliche Faktoren

Eine Studie an der Universität Leipzig hat daher erfolgreiche Recherchen von Tageszeitungen und ihre Rahmenbedingungen analysiert. Ziel war es, förderliche und hinderliche Faktoren für investigativen Journalismus empirisch herauszuarbeiten. Untersucht wurden insgesamt 14 Recherchen, die in den Jahren 2001 bis 2006 mit dem »Wächterpreis der Tagespresse« ausgezeichnet wurden. Darunter waren unter anderem investigative Arbeiten des Tagesspiegel zur Krise der Bankgesellschaft Berlin, Enthüllungen des Kölner Stadt-Anzeigers zum Parteispendenund Müllskandal der Domstadt, Veröffentlichungen der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen zur Affäre um die Käuflichkeit des damaligen Sportchefs des Hessischen Rundfunks oder Recherchen zum Milliarden-Betrug der Firma »Flowtex« aus der Stuttgarter Zeitung.

Finanzielles Risiko

Man muss kein renommierter Rechercheur einer überregionalen Tageszeitung sein, um investigativen Journalismus betreiben zu können. Acht von insgesamt 14 untersuchten Recherchen entstanden bei Regionalzeitungen mit Auflagen zwischen 140.000 und 270.000 Exemplaren, zwei bei überregionalen Blättern (Welt und Bild) und eine bei einer Lokalzeitung in 40.000er-Auflage. Drei der befragten Wächterpreisträger arbeiteten zum Zeitpunkt der Recherchen als freie Journalisten.

Die finanzielle Ausstattung war nicht entscheidend für den Erfolg der Recherchen: Vier Arbeiten kamen gänzlich ohne Spesen aus. Kosten verursachten zumeist Reisespesen. Für freie Journalisten können aufwendige Recherchen jedoch zum finanziellen Risiko werden: Freiberufler sind bei rechercheintensiven Arbeiten eher auf eine Querfinanzierung durch den Verkauf anderer Beiträge angewiesen und werden von kostenintensiven Rechtsstreitigkeiten härter getroffen. Wichtiger als Geld war zeitlicher Freiraum für Recherche: Über die Hälfte der Befragten hatten ein Reporter-Berufsbild, das fast ausschließlich Recherchieren und Schreiben umfasste. Bei den Wächterpreisträgern, die ein umfangreiches Aufgabengebiet von der Recherche bis zum Seitenbauen und Redigieren von Fremdtexten hatten, erwies sich diese Auslastung als ein wesentlicher Hinderungsgrund für investigativen Journalismus.

Hohes Arbeitspensum

»Manchmal bleibt einem gar nichts anderes übrig, als erst seinen regulären Job zu machen und in der Freizeit, nach Feierabend oder an freien Tagen an der Enthüllung zu arbeiten«, sagt Horst Cronauer, der als Redaktionsleiter von Bild Frankfurt die Folterdrohung der Frankfurter Polizei gegenüber dem Entführer und Mörder von Jakob von Metzler aufdeckte. Cronauer und drei weitere Wächterpreisträger recherchierten nahezu ausschließlich in ihrer Freizeit, so dass die investigativen Veröffentlichungen in weiten Teilen auf Selbstausbeutung beruhten.

Dennoch arbeiteten auch die späteren Wächterpreisträger mit Reporter-Berufsbild unter großem Zeitdruck. Als Gründe wurden mangelnde Flexibilität in der Personalplanung und Konkurrenz zu anderen Medien genannt.

Das Arbeitspensum war allgemein hoch und wurde durch das investigative Arbeiten weiter belastet: Die recherchierenden Journalisten schätzten ihre normale Wochenarbeitszeit auf durchschnittlich 54 Stunden und 30 Minuten.

Thematische Generalisten

Das Bild vom hauptberuflichen Enthüller, der sich gestützt auf ein riesiges Zuträgernetzwerk und ein unbegrenztes Spesenkonto über Wochen ausschließlich an einem Thema festbeißt, geht an der Realität vorbei. Tatsächlich erarbeiteten sich die meisten Wächterpreisträger ihre Informantenkontakte erst im Verlauf der Recherchen und erledigten die tägliche Routine-Zeitungsproduktion weiterhin. Auch thematisch waren die Tageszeitungsjournalisten eher Generalisten als Spezialisten und das investigative Arbeiten für sie eine Ausnahmesituation.

Gute Ausbildung

Auffällig sind die zahlreichen Kooperationen von Journalisten unterschiedlicher Medien. In sieben von 14 untersuchten Fällen arbeiteten die Tageszeitungsjounalisten mit Kollegen vom Rundfunk, anderen Tageszeitungen oder Nachrichtenmagazinen zusammen. Die Mehrzahl dieser Kooperationen war jedoch informell und beruhte darauf, dass sich die Journalisten persönlich kannten und vertrauten. So ausgeprägt die Kooperation über Mediengrenzen hinweg war, so stark war auch das Einzelkämp fertum in ner halb der einzelnen Tageszei tungsredaktio nen. Zehn der 14 Wächterpreis-Enthüllungen lassen sich einem einzelnen Rechercheur zuordnen. Als Gründe für die mangelnde Teamarbeit wurden Sorge um die Exklusivität der Informationen, unflexible Redaktionsstrukturen oder innerredaktioneller Konkurrenzkampf genannt. Wenn Rechercheteams auf einen Missstand angesetzt wurden, wurde dies von den Befragten als besonders förderliche Rahmenbedingung bezeichnet. Wichtig für das Gelingen war außerdem Rückendeckung durch Kollegen, die von sich aus Routinearbeiten der späteren Wächterpreisträger übernahmen.

Im Vergleich zu den Ergebnissen repräsentativer Kommunikatorstudien hatten die Wächterpreisträger eine überdurchschnittlich gute Berufsausbildung. Besonders hoch war der Anteil der Absolventen von Journalistenschulen. Eine überbetriebliche Rechercheausbildung hatte außerdem die Hälfte der Befragten. Dennoch wandte ein großer Teil der Befragten klassische Techniken wie Recherchieren von außen nach innen, Hypothesenbildung oder Befragungspläne nicht konsequent an.

Rechtliche Auseinandersetzungen

Besonders wichtig für das Gelingen der investigativen Recherchen war Rückendeckung in Verlag und Chefredaktion. In fünf Fällen versuchten Gegner über Entscheider und Vorgesetzte, Druck auf die Rechercheure auszuüben.

Auch auf dem Rechtsweg gab es Widerstand gegen die Recherchen und Veröffentlichungen: In vier Fällen kam es zu juristischen Auseinandersetzungen um Unterlassungserklärungen und Gegendarstellungsbegehren. Drei Recherchen wurden von Anwälten begleitet. Ein Befragter gab an, dass die erhöhten Kosten durch rechtliche Auseinandersetzungen erhebliche Rückwirkungen auf seine Recherchen gehabt hätten, da Anzeichen für eine sinkende Rückendeckung in der Führungsebene deutlich geworden seien.

Höchste Priorität

In Ausnahmefällen wehrten sich Menschen im Fadenkreuz der Recherchen auch mit nicht-legalen Mitteln: Simone Wendler von der Lausitzer Rundschau erhielt bei ihren Korruptionsrecherchen in Cottbus eine Morddrohung, wurde von einer Privatdetektei beschattet und mit erfundenen Anschuldigungen im Lokalfernsehen diskreditiert. Ein weiterer Wächterpreisträger beantragte eine Geheimnummer, zwei weiteren Rechercheuren wurden Schläge angedroht.

In 13 von 14 untersuchten Fällen packten die Informanten nur aus, weil ihnen absoluter Quellenschutz zugesichert wurde. Der Schutz ihrer Informanten hat für die Rechercheure allerhöchste Priorität und wurde in allen Fällen gewahrt. Allerdings gab es in acht von 14 Fällen Versuche, an die Quellen oder das Recherchematerial heranzukommen – auch von anderen Journalisten.

Vier Versuche, den Informantenschutz auszuhöhlen, kamen von staatlichen Stellen: So forderten Staatsanwälte mehrfach zeugenschaftliche Stellungnahmen, mit einer Artikelserie sind Ermittlungen wegen Beihilfe zum Verrat von Dienstgeheimnissen verknüpft. Auch drohten Ermittler einem Befragten, mit einer Einsatzhundertschaft Redaktionsräume zu durchsuchen.

Ein weiterer Wächterpreisträger berichtete von Versuchen, Telefone der Journalisten abzuhören. Diese Aussagen konnten und sollten in der Studie jedoch nicht überprüft werden. Ein großer Teil der Wächterpreisträger schützte seine Informanten nicht nur passiv unter Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht, sondern auch aktiv durch das Auslagern von Dokumenten oder besondere Sorgfalt beim Telefonieren und der Internetnutzung. Informantenschutz verlangten jedoch auch Quellen, denen keine rechtlichen, dienstlichen oder wirtschaftlichen Konsequenzen drohten. So blieben beispielsweise Experten ungenannt oder auch Kleinstadtbewohner, die Erlebnisse aus ihrer Schulzeit mitteilten. Die Wächterpreisträger legten den Informantenschutz also auf Wunsch ihrer Quellen weit aus. Dies lässt auf eine generelle gesellschaftliche Zurückhaltung gegenüber Öffentlichkeit schließen, die investigativen Journalismus in Deutschland allgemein behindert. Durch eine Vielzahl von anonymen Quellen sinkt die Glaubwürdigkeit und die Recherchen können in der Öffentlichkeit leichter angezweifelt werden.

Die These, dass Auskunftspflichten von Behörden ein zentraler Bestandteil für funktionierenden Journalismus in einer Demokratie sind, muss angesichts der Ergebnisse dieser Studie hinterfragt werden. In lediglich einem der untersuchten Fälle wa ren Aus – kunfts rechte ge – genüber staatlichen Stellen von zentraler Bedeutung für das Gelingen der Recherche – und prompt wurde der Aus kunft gebende Staatsanwalt auch innerhalb seiner Behörde angegangen. Auskunftsan sprüche wurden von Amts wegen restriktiv ausgelegt. In fünf Fallstudien kamen staatliche Stellen ihrer Auskunfts pflicht nachweislich nicht nach. Viele Wächter preisträger mieden geradezu den Dienstweg über Pressestelle oder Behördenleitung. Genutzt wurde die Auskunftspflicht meist zur Absicherung bereits recherchierter Informationen.

Kontrolleure von Macht

Für eine Antwort auf die Frage, warum die Journalisten Überstunden schoben, Risiken eingingen und gegen Widerstände anrecherchierten, ließen sich ebenfalls Anhaltspunkte finden: Anders als die Mehrheit der deutschen Journalisten sahen sich die Wächterpreisträger eher als aktive Kritiker und Kontrolleure von Macht denn als neutrale Übermittler von Nachrichten.

»Meiner Meinung nach haben Journalisten die Pflicht, Missstände aufzudecken, den Finger in die Wunde zu legen und so lange zu bohren, bis etwas passiert«, sagt Sonia Shinde, die als freie Journalistin Betrugsfälle im Gesundheitswesen recherchierte. In diesem Punkt sind die Wächterpreisträger ihren Kollegen aus den USA oder Großbritannien ähnlicher als die meisten deutschen Journalisten.

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