Russland
»Das Medienecho im Westen überhöht«

Die Petersburger Medienwissenschaftlerin Olessja Koltsowa im Gespräch mit Message über Mythen und Klischees in den Berichten westlicher Medien – und warum der Tod Anna Politkowskajas nicht auch der Tod der Pressefreiheit in Russland ist.

von Uwe Krüger

Der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 war ein Schock für westliche Beobachter. »Die letzte Hoffnung wurde erschossen«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Ist die russische Pressefreiheit im Absterben begriffen?

Koltsowa: Der Tod von Anna Politkowskaja war ein trauriger Vorfall in einer Reihe von vielen. Dass man dieses Ereignis auswählt, um die russische Pressefreiheit für tot zu erklären, halte ich für eine Übertreibung. Es gibt natürlich nichts Schlimmeres als den Tod eines Menschen, aber schon vorher gab es strukturelle Veränderungen bei den russischen Medien, die viel mehr Besorgnis hätten erregen müssen.

Ist die Pressefreiheit also schon früher gestorben?

Koltsowa: Ich möchte gar nicht behaupten, dass sie früher da war und dann irgendwann gestor- ben ist. Es ist ein Mythos, dass unter Jelzin alles in Ordnung gewesen war und dass es in seiner Regierungszeit Pressefreiheit gab – und dass dann Putin alle Errungenschaften kaputt gemacht hat.

Aber der Einfluss des Kreml auf die Medien hat unter Putin gewaltig zugenommen, unter Jelzin waren die Medien deutlich weniger abhängig vom Staat. Koltsowa: Unter Jelzin war der Staat überhaupt sehr schwach, er hatte kaum auf irgendetwas Einfluss. Das heißt aber nicht, dass die Medien frei waren. Das Machtvakuum, dass der schwache Staat hinterließ, füllten bestimmte Gruppen mit großen politischen und ökonomischen Ressourcen. Und diese Gruppen, die faktisch die Rolle des Staates übernommen hatten, kämpften gegeneinander um Macht und Einfluss.

Sie sprechen von den Oligarchen?

Koltsowa: Nun, in der Alltagssprache nennt man sie Oligarchen, aber es geht hier nicht um einzelne Personen. Oligarchen sind nur die Häupter von mächtigen Gruppen, zu denen jeweils Vertreter der Regierung, Konzerne, private Sicherheitsdienste und auch Massenmedien gehören. Solche Gruppen sind praktisch Proto-Staaten. Es gab also in den 90er Jahren nicht den einen Staat, sondern mehrere Anwärter auf dessen Rolle: das Imperium von Beresowskij, das von Gusinskij und so weiter. Die Massenmedien gehörten zu je einer Gruppe und waren abhängig von deren Führung. Da die Gruppen miteinander rivalisierten und ihre Medien als Instrument ihrer Propaganda einsetzten, gab es eine gewisse Vielfalt in den Medienaussagen. Was aber nicht bedeutete, dass Meinungsvielfalt innerhalb der Bevölkerung vermittelt worden wäre. Zu sagen, dass es früher unabhängige Medien gab, wäre naiv.

Aber zumindest gab es kremlkritische Medien.

Koltsowa: Wenn es den Oligarchen nutzte, gab es natürlich Kritik am Kreml. Der private Fernsehsender NTW kritisierte 1994 die Tschetschenien-Politik, weil dessen Eigentümer Gusinskij ein größeres Stück Macht haben und Druck auf die Umgebung Jelzins ausüben wollte. Als dann 1996 die Wiederwahl des angeschla- genen Jelzin durchgesetzt werden sollte, wurden NTW-Manager in Jelzins Wahlkampfstab geschickt und die kritische Berichterstattung eingestellt. Und nach den Wahlen wurde Gusinkij dafür reich belohnt: NTW bekam ohne Auswahlprozedur landesweite Sendefrequenzen und Rabatt bei den Sendegebühren. Noch einmal: Es gab keine Medien, die das Geschehen objektiv beleuchteten. Während unter Jelzin verschie- dene Gruppen die Medien unter Kontrolle hielten, hat sich das unter Putin nun zentralisiert.

Die Vielfalt ist damit auch verschwunden.

Koltsowa: Ja, im Mainstream beobachten wir eine Verringerung der Vielfalt, was die Sicht auf viele politische Fragen angeht. Aber nicht alles ist ein- deutig negativ. Zu Jelzins Zeiten gab es auf der Medienagenda nur Themen, die die Interessen der Oligarchen und ihre Kämpfe betrafen. Heute gibt es auch Themen, die die Probleme der kleinen Leute betreffen. Natürlich wird über diese Themen nicht frei berichtet, aber immerhin gibt es sie wieder.

Oder nehmen Sie den Radiosender Echo Moskwy. Er gehört dem halbstaatlichen Konzern Gazprom, den- noch findet man dort sehr kritische Kommentare zu vielen Themen, ausgenommen Tschetschenien und die Person des Präsidenten. Oder Zeitschriften wie Expert, Kommersant-Wlast oder Russkij Newsweek. Und im Internet findet man auch über Tschetschenien Informationen von verschiedenen Seiten. Wir haben also einen stark kontrollierten Mainstream und eine sehr vielfältige Peripherie.

Dennoch ist es aus westeuropäischer Sicht ein qualitativer Unterschied, ob der Staat eine Gleichschaltung betreibt oder ob die Medien von privaten Unternehmern, seien sie auch oligarchisch, gesteuert werden. Im zweiten Fall besteht wenigstens Hoffnung, dass daraus einmal echte Pressefreiheit erwächst. Koltsowa: Im Prinzip ist das richtig. Im Russland der 90er Jahre handelte es sich jedoch nicht um rein private Strukturen, daher konnte sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Das Privateigentum als Institution war nach dem Ende der Sowjetunion erst im Entstehen begriffen und wurde sogleich durch die Raubprivatisierung diskreditiert: In den Augen der Bevölkerung hatten die Oligarchen ihr Eigentum auf illegitime Weise erworben. Zudem traten sie nicht als private Geschäftsleute, sondern als Politikmacher auf. Deshalb setzte sich auch niemand für sie ein, als sie vom Staat entmachtet wurden.

Wie denkt die Bevölkerung über die zunehmende staatliche Kontrolle der Mainstream-Medien?

Koltsowa: Die Mehrheit ist damit nicht sehr zufrie- den. Aber die Meinungsfreiheit als Wert rangiert im Bewusstsein der meisten Leute auf der Skala der Menschenrechte relativ weit unten. Ganz oben stehen das Recht auf Sozialleistungen, Rente und Arbeit sowie das Recht auf Leben und Sicherheit. Die Meinungsfreiheit ist nur für 13 Prozent der Leute sehr wichtig, wie eine Umfrage der Stiftung für Öffentliche Meinung ergab. Die Meinungsfreiheit gewinnt erst dann subjektiv an Bedeutung, wenn die sozialen und ökonomischen Probleme gelöst sind. Wer seine Kinder nicht ernähren kann, der sagt natürlich: »Wozu brauche ich eure Demokratie? Ich brauche Arbeit und Geld, damit ich im Laden etwas kaufen kann.«

Anna Politkowskaja hat vor einigen Jahren gesagt: »Pressefreiheit in Russland ist die Freiheit, Putin zu lieben.«
Koltsowa: Das ist die Auffassung vieler Journalisten, die versuchen, ehrlich zu arbeiten. Für die 90er Jahre müsste man aber hinzufügen: Damals war Pressefreiheit die Freiheit, Beresowskij oder Gusinskij zu lieben. Damals konnte man also noch wählen. Aber nach meiner Auffassung ist die Wahl zwischen Gusinskij und Beresowskij nicht viel besser als die Wahl zwischen Putin und Putin.

Warum?

Koltsowa: Weil auch Gusinskij und Beresowskij das- selbe waren, soweit es um ihr Verhältnis zu den Medien ging: Sie sahen sie als reines Machtinstrument.

Wie haben die russischen Medien über den Tod Anna Politkowskajas berichtet?

Koltsowa: Wir haben das gerade mit Studenten untersucht, mit folgenden Ergebnissen: Die zentralen Zeitungen haben ein sehr positives Bild von Anna Politkowskaja gezeichnet, als ehrliche Journalistin und Bürgerrechtlerin. Allerdings wurden längst nicht überall die vermutlichen Gründe für ihre Ermordung analysiert, und im landesweiten Fernsehen fehlte der Hinweis, dass sie viel zum Thema Tschetschenien recherchiert hatte. In einigen wenigen Zeitungsartikeln wurde kritisiert, dass sie nicht objektiv gewesen sei und ihre Quellen oft nicht geprüft habe.

Dass breit berichtet wurde, ist bemerkenswert. Denn in Russland war sie kaum bekannt. Sie arbeitete für eine sehr kleine Zeitung, die Nowaja Gazeta. Bekannt war sie vor allem in Journalisten- und Menschenrechtler-Kreisen, und natürlich in Westeuropa, wo sie die Mehrheit ihrer Auszeichnungen erhalten hat. Es spricht für eine gewisse Solidarität unter den russischen Journalisten, dass ihr Tod so groß thematisiert wurde.

Wie beurteilen Sie das Echo des Falls in den westli- chen Medien?

Koltsowa: Anna Politkowskaja war eine mutige, gewissenhafte Journalistin und ihr Tod zweifellos eine Tragödie. Aber wie gesagt, halte ich das Medienecho in den westlichen Ländern für überhöht, genauso wie das Lob für Jelzin und die Kritik an Putin.

Wie erklärt sich diese Sicht westlicher Medien?

Koltsowa: Das schwache Russland war unter dem kranken und betrunkenen Jelzin, in dem sich einzel- ne Gruppen untereinander bekämpften und in dem die Güterproduktion zusammengebrochen war, ein harmloses Land. Deshalb wurde dieses Regime gelobt mit Sätzen wie: »Jelzin ist ein Demokrat, er ist für Pressefreiheit, er führt die richtigen Reformen durch.« Putin hingegen hat den Staat gestärkt, er macht eine eigenständige Außenpolitik und begleicht die Staatsschulden; unter ihm erlebt die Wirtschaft einen Aufschwung. Russland wird wieder mächtig, deshalb wird Putin getadelt: »Er ist gegen Pressefreiheit!«

Erwarten Sie etwa, dass die westlichen Medien über die Missstände im heutigen Russland schweigen? Koltsowa: Ich bin kein Freund Putins, ich habe ihn nicht gewählt und stehe seiner Politik sehr kritisch gegenüber, vor allem was Tschetschenien betrifft. Aber als Wissenschaftlerin muss ich konstatieren: Die westlichen Medien malen ein falsches Bild über den Zustand der russischen Pressefreiheit und tun gleich- zeitig so, als ob bei ihnen alles in Ordnung wäre.

Nehmen wir an, Sie hätten recht, dass den politischen Eliten des Westens an einem düsteren Russland-Bild gelegen sei. Sie unterstellen damit aber auch, dass die westlichen Medien nach der Pfeife ihrer politischen Eliten tanzen.

Koltsowa: Ich bin vertraut mit der Situation in den USA, Großbritannien und Finnland, und mir scheint,

dass es in diesen Ländern einen fundamentalen Unterschied zwischen der Inlands- und der Auslands- berichterstattung gibt. Was das Inland angeht, so funktioniert dort Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle; viele Gruppen kämpfen für ihre Interessen und äußern ihre Standpunkte. Es entsteht ein relativ objektives Medienbild der Vorgänge. In Bezug auf Vorgänge im Ausland ist das anders. Die Motivation der Korrespondenten, Vorgänge objektiv zu beleuch- ten, ist um vieles geringer: »Das ist weit weg, das betrifft unsere Leser und Zuschauer nicht direkt, das interessiert sie nicht besonders.« Zudem folgen Auslandskorrespondenten in ihren Interpretationen meist den politischen Vorgaben. Nachrichten aus Russland oder China kommen in die deutschen Medien, wenn es eine Naturkatastrophe gibt oder eine Handlung der eigenen politischen Elite, etwa wenn die Kanzlerin dort einen Vertrag abschließt oder irgendeinen Vorgang verurteilt.

Kehren wir zu den russischen Medien zurück. Ist der Eindruck richtig, dass Politiker und Amtsträger immer häufiger Journalisten verklagen? Wie zum Beispiel die Journalistin Olga Kitowa, die vom Gouverneur des Belgoroder Gebietes wegen ihrer Berichte über Korruption mit Verleumdungsklagen überzogen wird?

Koltsowa: Mir sagt der Name Kitowa nichts, sie ist in Russland nicht bekannt. Der Eindruck ist aber richtig: Laut Statistik der Stiftung zum Schutz von Glasnost nimmt die Zahl solcher Gerichtsverfahren zu. Man muss aber vorsichtig sein, denn es gibt eine allgemeine Tendenz, dass Streitigkeiten häufiger von Gerichten entschieden werden. Im Prinzip ist es posi- tiv zu sehen, dass die Bedeutung der Justiz zunimmt. Trotzdem ist Besorgnis angebracht, wenn immer häufiger Medien vor Gericht gezogen werden. Das ist zweifellos ein Mittel, um Druck auf sie auszuüben.

Vorhin sagten Sie, die Situation der Medien sei seit Jelzin nicht schlimmer geworden.

Koltsowa: Nicht viel schlimmer, ein bisschen.

Was ist mit den Morden an Journalisten?

Koltsowa: Jedes Jahr werden laut Stiftung zum Schutz von Glasnost zehn bis zwanzig Journalisten in Russland ermordet. In den letzten Jahren sind die Zahlen gesunken, 2005 waren es sechs Journalisten. Man muss allerdings auch vorsichtig sein, verschiedene Organisationen erstellen verschiedene Statistiken. Oft ist nicht klar, ob ein Journalist wegen seiner beruf- lichen Tätigkeit ermordet wurde oder aus anderen Gründen. Nun verwundert aber, dass mancher Mord eine besonders starke Resonanz auslöst.

Was glauben Sie, warum hat uns Anna Politkowskajas Tod so beschäftigt?

Koltsowa: Ich vermute, weil Anna Politkowskajas Blick auf die Tschetschenien-Problematik der Sicht des Westens näher war als der russischen Staatsführung. Sie hat zwar in ihren Artikelnlängst nicht nur Putin und die russische Armee kritisiert, sondern auch die tschetchenischen Sicherheitskräfte und deren Befehlshaber Kadyrow, ebenso den Terroristen Bassajew und den Ex-Präsidenten Maschadow – sie war für alle Seiten äußerst unbequem. Aber ihre Forderung nach einem Abzug der russischen Truppen und der Installation internationaler Truppen kam dem Westen gelegen. Deshalb hat nach meiner Ansicht gerade ihr Tod im Westen eine so stürmische Resonanz ausgelöst.

Gibt es Ansätze, dass die Journalisten selbst für Unabhängigkeit streiten?

Koltsowa: Der russische Journalistenverband bemüht sich, hat aber wenig Einfluss. Daneben gibt es weitere Organisationen, die vom Westen finanziert sind – etwa die Stiftung zum Schutz von Glasnost, die viele gute Programme aufgelegt hat. Journalisten wenden sich dorthin, wenn sie zum Beispiel verklagt worden sind. Die Stiftung unterhält in den Regionen ein Netz von Freiwilligen, die Ansprechpartner für Journalisten sind, die sich in ihren Rechten verletzt sehen. Das Problem ist allerdings, dass die Mittel für dieses Netz gekürzt wurden, und nun kommen der Stiftung die Freiwilligen abhanden.

Ehrenamtliches Engagement ist in Russland sel ten anzutreffen – eine Folge der Sowjetzeit, wo Engagement vom Staat verordnet wurde. Nun ver- stehen die Leute nicht, warum sie ohne Bezahlung arbeiten sollten. Die meisten Journalisten denken in erster Linie an ihre eigene Karriere und nicht an das Gemeinwohl.


Olessja Koltsowa lehrt Massenkommunikation an der staatlichen Hochschule für Wirtschaft in St. Petersburg. Sie ist Autorin des Buches »News Media and Power in Russia« (New York: Routledge 2006), für das sie neun Jahre lang die Nachrichtenproduktion und die Transformation der Medien im postsowjetischen Russland untersucht hat. Forschungsaufenthalte führten sie unter ande- rem an die Universität Tampere (Finnland) und die Duke University (North Carolina, USA). Von 1990 bis 1995 studierte sie Journalistik in St. Petersburg und war auch journalistisch tätig.

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