Medienkritik
»Beinahe schon verbrecherisch«

Die Zeitschrift Focus recycelte eine längst dementierte Darstellung der Financial Times – und missbrauchte den US-Soziologen Robert Putnam als Kronzeugen für ihre Anti-Mulitikulti-Agenda.

von Martin Niggeschmidt

Eine Studie des Harvard-Professors Robert Putnam habe bestätigt, was realistische Menschenkenner schon immer wussten: »Multikulti kann nicht funktionieren.« Das meldete ein Diskussionsteilnehmer am 17. November 2006 auf den Internetseiten von Politikforen.de (www. politikforen.de/showthread.php?p=1021226). Der Eintrag war mit einem Artikel aus Nation & Europa verlinkt, einem Monatsheft, das vom Verfas- sungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird.

Robert Putnam bekam Ende vergangenen Jahres Beifall von Multikulti-Skeptikern und Einwanderungs- Gegnern aus nahezu allen Teilen der Welt. Die Presse- Anfragen, die in seinem E-Mail-Account landeten, waren so zahlreich, dass er sie nicht mehr beantwor- ten konnte. Doch sein Büro verwies jeden Journalisten auf die Website der Harvard-University, auf der nach- zulesen war, warum Putnam die Berichterstattung über seine neusten Forschungsergebnisse für »bei- nahe schon verbrecherisch« hielt. (http://www.ksg. harvard.edu/saguaro/)

Robert Putnam zählt zu den einflussreichsten Sozialwissenschaftlern der Gegenwart. Sein Buch »Bowling alone« (2000) wurde in den USA zum Bestseller und entfachte eine Diskussion über bür- gerschaftliches Engagement, Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Die Clinton- und die Bush-Regierung suchten ebenso das Gespräch mit dem Harvard- Professor wie die britische Regierung.

Alarmierende Thesen

Putnam ist Erfolg gewöhnt. Am 30. September 2006 nahm er den mit 50.000 Dollar dotierten Skytte-Preis der schwedischen Uppsala-Universität entgegen. Zu dieser Gelegenheit stellte er erstmals seine Forschungsergebnisse zum Thema »immigrati- on, diversity and community« vor. Einige Tage später wiederholte er seine Thesen an der University of Manchester in England.

Putnams Vorlesung schaffte es auf die Titelseite der Financial Times (9.10.06, Online-Version: www.ft.com/cms/s/7e668728-5732-11db-9110-0000779e2340.html) und von dort aus ohne Umwege in die deutschen Medien. Süddeutsche Zeitung (10.10.06), Deutschlandfunk (14.10.06) und Focus (30.10.06) beschrieben die Forschungsergebnisse übereinstimmend als »alarmierend« und skizzierten Putnams Kernthese wie folgt: Je heterogener die eth nische Zusammensetzung einer Kommune sei, desto geringer sei das Vertrauen der Bürger zueinander.
»Putnams Studie scheint die Kassandrarufe zu bestätigen, dass ein hohes Maß an Immigration den elementaren gesellschaftlichen Kitt zersetze«, schrieb Petra Steinberger im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. (Online-Version »Mythos ‚melting pot‘. Im Käfig«: www.sueddeutsche.de/,tt5m3/wissen/artikel/187/88099/)

Freie Interpretation

Vor dem Hintergrund der in Westeuropa geführ- ten Debatten um Integration und »home-grown«- Terrorismus hat eine solche These Brisanz – umso mehr, wenn sie von einem Linksliberalen stammt. »Putnams Forschungsergebnisse müssen ihn selbst besonders schmerzen«, so die Süddeutsche Zeitung, und auch der Deutschlandfunk gab sich mitfühlend: »Diese Erkenntnisse sind für Putnam selbst gar nicht leicht zu verkraften.« Unter Berufung auf den Artikel der Financial Times wusste Focus sogar zu berichten, der Professor »hätte das empirische Material am liebs- ten unter Verschluss gehalten«.

Das allerdings ist eine ziemlich freie Interpretation dessen, was die Financial Times am 9. Oktober berichtet hat. Im Originaltext findet sich eine andere Version: »Professor Putnam told the Financial Times he had delayed publishing his research until he could develop proposals to compensate for the negative effects of diversity, saying it would have been irres- ponsible to publish without that.«

Doch schon an dieser Ursprungsversion, die in unzähligen Medien, Blogs und Internetforen kolpor- tiert wurde, sind Zweifel erlaubt. Putnam jedenfalls erinnert sich anders an sein Gespräch mit den briti- schen Journalisten: »I told them it would have been irresponsible for me to publish only about the pro- blems of immigration without discussing the larger context, including how successful immigrant nations have responded to those problems. Ironically, that is exactly what they did.« Tatsächlich stürzte sich die Financial Times unter der Überschrift »Harvard study paints bleak picture of ethnic diversity« vor allem auf Putnams Ausführungen zu den problematischen Seiten der Einwanderung. (Financial-Times-Autors John Lloyd schrieb noch zwei weitere, etwas aus- gewogenere Artikel zum Thema, die aber weniger Beachtung fanden.)

Zwei Tage nach Erscheinen der Titel-Story druckte die Financial Times einen Leserbrief. Alistair Ulph, der Vizepräsident der Universität von Manchester, warf der Zeitung vor, ein verzerrtes Bild der Forschungsergebnisse gezeichnet zu haben, die Putnam in seinem Vortrag in Manchester vorgestellt hatte: »The talk made three points. The first was that immigration and increasing ethnic diversity are both inevitable and beneficial in all modern societies. (…) The second was that, in the short term, ethnic diversity challenges community cohesion. The third was that, in the longer term, successful immi- grant societies renew their cohesion by deconstruc- ting lines of ethnic difference and constructing a new, more capacious sense of ‚we’.« Der Financial-Times-Artikel habe nur den zweiten Punkt herausgegriffen.

Schlechtes Erlebnis

Für die Süddeutsche Zeitung kam dieser Brief zu spät. Sie hatte die Darstellung der Financial Times schon für den darauffolgenden Tag übernommen – ungeprüft, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, Putnam selbst zu befragen. Der Deutsch- landfunk, der seine Story erst am 14. Oktober sen- dete, hätte die Richtigstellung auf der Website der Harvard-University finden können, ignorierte sie aber ebenso wie die Links auf zwei BBC-Radio-Interviews, in denen sich Putnam besorgt über die irreführende Medienberichterstattung zeigt. (www.ksg.harvard. edu/saguaro/pdfs/FTcorrection.pdf)

In diesen Interviews führt Putnam aus, dass Einwanderung seinen Forschungsergebnissen zufolge für moderne Gesellschaften nutzbringend sei, weil sie Kreativität und Energie freisetze. Er verweist in die- sem Zusammenhang auf den überproportional hohen Anteil von Einwanderern unter den amerikanischen Nobelpreisträgern. Die von den Medien nun beson- ders hervorgehobenen Probleme der Einwanderungs- gesellschaften bezeichnet Putnam als »kurzfristig«. Erfolgreiche Einwanderungsgesellschaften überwin- den Putnam zufolge diese schwierige Phase auf län- gere Sicht und bilden eine neue nationale oder kom- munale Identität jenseits ethnischer Grenzen.

Dabei spielen Erziehung und Popkultur eine große Rolle. Vor einer Generation habe man in den USA noch von »jüdischem Humor« gesprochen, so Putnam. Heute werde Woody Allen als ame- rikanischer, nicht als jüdi- scher Komiker angesehen. Der Erfolg des Transformationsprozesses sei allerdings nicht zwangs- läufig, er müsse von politischer wie privater Seite erar- beitet werden.

»Social cohesion is ultimately achievable even in countries with high levels of ethnic diversity«, lautet also die zentrale These seiner Forschung. Dass seine Arbeit dennoch von Anti-Immigrations-Aktivisten instrumentalisiert werden konnte, dass er in Blogs als Gewährsmann rassistischer und rechtsextremer Botschaften auftauchte, führt er auf die irreleitende Berichterstattung der Financial Times zurück. Dies sei mit Abstand die schlechteste Erfahrung gewesen, die er jemals mit Medien gemacht habe, so Putnam gegenüber der Universitätszeitung. (The Harvard Crimson, 26.10.2006)

Falsch verstanden

Focus-Redakteur Roger Thiede kannte offenbar die Vorwürfe gegen die Financial Times, denn er erwähnt in seinem Artikel die Kritik des Wissenschaftlers, »die Zeitungen hätten nur das Negative herausge- hört, das Positive unterschlagen«. Den Focus-Lesern mitzuteilen, worin Putnams Meinung nach »das Positive« besteht, weigerte allerdings auch Thiede sich standhaft.

Stattdessen erläutert die Bildunterschrift zu einem Foto von afrikanischen Flüchtlingen: »Tabuthema: Je mehr Menschen verschiedener Rassen in eine Kommune kommen, desto weniger vertrauen die Einwohner einander.«

Focus-Autor Thiede berichtet, der zuständige Ressort-Leiter habe nach Lektüre des Artikels in der Süddeutschen Zeitung beschlossen, etwas zu Putnams Vorlesung zu machen: »Offensichtlich hatte Putnam in Uppsala und Manchester ein Thema berührt, das nur selten angesprochen wird«, so Thiede. Bei der Berichterstattung verfolgten die Fo- cus-Redakteure dann allerdings ihre eigene Agenda. »Kann sein, dass Putnam sich von dem Focus-Artikel ebenso falsch verstanden fühlen würde wie von der Zusammenfassung in der Financial Times«, räumt Thiede ein.

Trübes Licht

Der Leserbrief an die Financial Times, die Richtigstellung auf der Harvard-Hompage, die BBC- Interviews – alles umsonst; die Focus-Redaktion entschloss sich, eine längst dementierte Darstellung der Financial Times zu reanimieren. Dazu musste Putnams Medienschelte lediglich in einen Rückzieher umgedeutet werden. »Der Gelehrte selbst, der einen Ruf als Liberaler zu verlieren hat, rudert derweil zurück«, schreibt der Focus-Redakteur und strickt damit an der Legende, Putnam habe zunächst mutige, politisch unkorrekte Forschungsergebnisse verkündet, um sie später wieder zu relativieren.

Doch sowohl der Vizepräsident der Universität von Manchester, Alistair Ulph, als auch Putnam selbst betonen, dass schon die Vorlesung alle später auch auf der Harvard-Website ausgebreiteten Aspekte des Themas behandelte. Die beiden waren dabei. Thiede nicht.

Wie überzeugend Putnams neuen Thesen sind, kann man seriös erst diskutieren, wenn die Zeitschrift Scandinavian Political Studies Anfang 2007 seine Vorlesung vollständig abgedruckt hat und auch die wissenschaftliche Methode nachvollziehbar wird.

Doch dass Journalisten die Aussagen von Wis- senschaftlern verhackstücken und instrumentalisie- ren, dass sich eine irreführende Berichterstattung aller Dementis und Korrekturen zum Trotz einen Monat lang über Landesgrenzen hinweg perpetuieren und ausbreiten kann, wirft ein trübes Licht auf die Recherchepraxis von Wissenschaftsjournalisten. Dies alles, so Putnam gegenüber Message, erinnere ihn an einen alten Aphorismus: »A lie can run around the world before the truth can get its boots on.«

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